Der Placeboeffekt – eine kritische Evaluation

Der sogenannte Placeboeffekt gilt seit 50 Jahren als eine wissenschaftliche Tatsache, seit Henry K. Beecher 1955 seinen bahnbrechenden Artikel "The Powerful Placebo" publiziert hat. Seitdem gilt als eine Art Naturkonstante, daß allein durch die suggestive Verabreichung einer Zuckerpille bei einem Drittel aller Patienten der gewünschte therapeutische Erfolg herbeigeführt werden könne. In jüngster Zeit ist das angenommene Ausmaß noch weiter gewachsen: die Placebowirksamkeit wird auf durchschnittlich 70% bei fast allen Erkrankungen geschätzt. Diese Behauptungen wurden in allen großen medizinischen Zeitschriften popularisiert, jedoch nie kritisch hinterfragt.
Placebos haben heute in der Medizin in dreierlei Hinsicht Bedeutung:
  1. Da – wie vermutet – jeglicher Arzneimitteleffekt, auch ein unerwünschter, durch Gabe von Placebos imitiert werden könne, wird eine obligatorische Verblindung in allen Arzneimittelstudien gefordert. Bei placebokontrollierten Studien ergebe sich der wahre Arzneimitteleffekt aus der Subtraktion des Placeboeffekts vom Arzneimitteleffekt.
  2. Wegen der vermeintlich hohen Rate therapeutischer Placeboerfolge und der zugleich denkbaren Kostenersparnis wird diskutiert, Placebos vermehrt therapeutisch einzusetzen.
  3. Therapieerfolge, deren spezifisches Wirkprinzip nicht mit gängigen Konzepten erklärt werden kann (z. B. Komplementärmedizin, Psychotherapien verschiedener Schulen), werden oft als Placeboeffekte deklariert.
Die bloße Suggestion der Therapie, die gezielte Täuschung des Patienten – die „heilende Lüge“ – steht im diametralen Gegensatz zum Konzept des Empowerment, der Entscheidungsautonomie und Selbst- bzw. Mitbestimmung des Patienten. Deshalb ist, ehe das Prinzip der Täuschung in die Therapie integriert wird, eine kritische Sichtung nötig.
800 Placeboarbeiten wurden dahingehend analysiert, ob, wie behauptet, eine therapeutische Wirkung der Placebogabe überzeugend demonstriert sei. Das Ergebnis war überraschend. Im Gegensatz zu den weitverbreiteten Behauptungen enthielt keine einzige der analysierten Studien eine überzeugende Demonstration eines therapeutischen Placeboeffekts. Vielmehr gibt es eine Reihe von verschiedene Faktoren, die Placeboeffekte vortäuschen können: Spontanverlauf der Erkrankung, Spontanschwankung der Symptome,  regression to the mean, begleitende Therapiemaßnahmen, Gefälligkeitsauskünfte, experimentelle Unterordnung, gravierende methodologische Mängel der Studien, irrelevante Prüfkriterien, falsches Zitieren etc.1,2,3 Insgesamt sind die verbreiteten Literaturangaben zu Größe und Häufigkeit des Placeboeffekts unbegründet und in hohem Maße übertrieben, wenn nicht gänzlich falsch.
Diese Ergebnisse wurden mit einer von der Nordischen Cochrane-Gruppe im New England Journal of Medicine publizierten Meta-Analyse4 überprüft und bestätigt: 114 randomisierte Studien mit Placebogruppen und unbehandelten Gruppen ergaben keine Überlegenheit der Placebobehandlung gegenüber der Nullbehandlung, außer eventuell bei Schmerzbehandlung, wo es sich allerdings auch um Studienartefakte handeln kann.

Literatur
  1. Kienle GS, Kiene H. The Powerful Placebo Effect. Fact or Fiction? Journal of Clinical Epidemiology 1997;50 (12):1311-1318.
  2. Kienle GS. Der sogenannte Placeboeffekt – Illusion, Fakten, Realität. Stuttgart: Schattauer Verlag; 1995, 95 S.
  3. Kienle GS, Kiene H. Placeboeffekt und Placebokonzept. Eine kritische methodologische und konzeptionelle Analyse von Angaben zum Ausmaß des Placeboeffekts. Forschende Komplementärmedizin 1996;3 (3):121-138.
  4. Hróbjartsson A, Gøtzsche P. Is the placebo powerless? An analysis of clinical trials comparing placebo with no treatment. The New England Journal of Medicine 2001;344(21):1594-1602.
Weitere Publikationen zum Thema
  1. Kienle GS. Der Placeboeffekt - ein Mythos zwischen Selbstheilung und Selbsttäuschung. In: Perl F, Beckerman M (Hrsg). Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Basel: Schwabe Verlag Basel; 2004. S. 131-141.
  2. Kienle G, Kiene H. A critical reanalysis of the concept, magnitude and existence of placebo effects. In: Peters D (Hrsg), Understanding the Placebo Effect in Complementary Medicine. Theory, Practice and Research. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2001. S. 31-51.
  3. Kienle GS. Der Placeboeffekt – eine kritische Evaluation. Dokumentationsband des 18. Hochschulkurs aus Gesundheitsökonomik, 5.-7. Oktober 1998, Bildungshaus Kloster Neustift bei Brixen/Südtirol. Institut für Finanzwissenschaft der Universität Innsbruck. Österreichische Gesellschaft für Gesundheitsökonomie; 1999, S. 1-17.
  4. Kiene H, Kienle GS. The placebo effect: a scientific critique. Complementary Therapies in Medicine 1998;6:14-24.
  5. Kienle GS, Kiene H. Placeboeffekt und Placebokonzept. Eine kritische methodologische und konzeptionelle Analyse von Angaben zum Ausmaß des Placeboeffekts. Der Frauenarzt 1998;39 (4):571-585.
  6. Kienle GS. Der Placeboeffekt – eine kritische Evaluation. Deutsche Apotheker Zeitung 1998;138 (30):33-41.
  7. Kienle GS, Kiene H. Der Placeboeffekt – Ein hartnäckiges Gerücht (II). Raum & Zeit 1998;91:67-72.
  8. Kiene H, Kienle GS. Placeboeffekt und Religion. Forschende Komplementärmedizin 1997;5:296.
  9. Kienle GS. Methodologische Kritik zum sogenannten Placeboeffekt. In: Baur MP, Fimmers R, Blettner M (Hrsg). Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie GMDS '96. 41. Jahrestagung der GMDS, Bonn, September 1996. München: MMV; 1997. S. 365-369.
  10. Kienle GS. Kritische Analyse der wissenschaftlichen Basis des sogenannten Placeboeffekts. Bedeutung des Placeboarguments für die Erfahrungsheilkunde. Erfahrungsheilkunde 1997;5:298-307.
  11. Kienle GS, Kiene H. Placeboeffekt und Placebokonzept. Eine kritische methodologische und konzeptionelle Analyse von Angaben zum Ausmaß des Placeboeffekts. Der Merkurstab 1997;50 (3):137-156.
  12. Kienle GS. Methodologische Kritik zum sogenannten Placeboeffekt. Rundbrief für die Mitarbeiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum in aller Welt 1997;22:81-85.
  13. Kienle GS, Kiene H. Der Placeboeffekt – Ein hartnäckiges Gerücht (I). Raum & Zeit 1997;90:63-70.
  14. Kienle GS. Der Placeboeffekt – Realität oder Illusion?. In: Hornung J (Hrsg). Forschungsmethoden in der Komplementärmedizin. Über die Notwendigkeit einer methodologischer Erneuerung. Stuttgart: Schattauer Verlag; 1996.  S. 204-213.
  15. Kienle GS, Kiene H. Placebo Effect and Placebo Concept: A Critical Methodological and Conceptual Analysis of Reports on the Magnitude of the Placebo Effect. Alternative Therapies in Health and Medicine 1996;2 (6):39-54.