2.3 Kritische Untersuchungen zum Placeboeffekt

Der Türöffner für das Thema des Einzelfall-Kausalerkennens und dann auch für das Thema von ärztlichem Urteil und therapeutischer Erfahrung waren im IFAEMM vorangegangene Untersuchungen zum Placeboeffekt.

Seit Henry K. Beecher 1955 seinen bahnbrechenden Artikel "The Powerful Placebo" publiziert hat, gilt der sogenannte Placeboeffekt als eine wissenschaftliche Tatsache. Seitdem gilt als eine Art Naturkonstante, daß allein durch die suggestive Verabreichung einer Zuckerpille bei einem Drittel aller Patienten der gewünschte therapeutische Erfolg herbeigeführt werden könne. Das angenommene Ausmaß ist zwischenzeitlich sogar noch weiter gewachsen: die Placebowirksamkeit wurde auf durchschnittlich 70% bei fast allen Erkrankungen geschätzt. Diese Behauptungen wurden in vielen medizinischen Zeitschriften popularisiert, jedoch nicht kritisch hinterfragt. 


Placebos haben in der Medizin in dreierlei Hinsicht Bedeutung:

  • Da – wie vermutet – praktisch jeglicher Arzneimitteleffekt, auch ein unerwünschter, durch Gabe von Placebos imitiert werden könne, wird eine obligatorische Verblindung in allen Arzneimittelstudien gefordert. Bei placebokontrollierten Studien ergebe sich der wahre Arzneimitteleffekt aus der Subtraktion des Placeboeffekts vom Arzneimitteleffekt.
  • Wegen der vermeintlich hohen Rate therapeutischer Placeboerfolge und der zugleich denkbaren Kostenersparnis wird diskutiert, Placebos vermehrt therapeutisch einzusetzen.
  • Therapieerfolge, deren spezifisches Wirkprinzip nicht mit gängigen Konzepten erklärt werden kann (z. B. Komplementärmedizin, Psychotherapien verschiedener Schulen), werden oft als Placeboeffekte deklariert.

Die bloße Suggestion der Therapie, die gezielte Täuschung des Patienten – die „heilende Lüge“ – steht in diametralem Gegensatz zum Konzept des Empowerment, der Entscheidungsautonomie und Selbst- bzw. Mitbestimmung des Patienten. Deshalb ist, ehe das Prinzip der Täuschung in die Therapie integriert wird, eine kritische Sichtung nötig. 
800 Placeboarbeiten wurden dahingehend analysiert, ob, wie behauptet, eine therapeutische Wirkung der Placebogabe überzeugend demonstriert sei. Das Ergebnis war überraschend. Im Gegensatz zu den weitverbreiteten Behauptungen enthielt keine einzige der analysierten Studien eine überzeugende Demonstration eines therapeutischen Placeboeffekts. Vielmehr gibt es eine Reihe von verschiedenen Faktoren, die Placeboeffekte vortäuschen können: Spontanverlauf der Erkrankung, Spontanschwankung der Symptome, regression to the mean, begleitende Therapiemaßnahmen, Gefälligkeitsauskünfte, experimentelle Unterordnung, gravierende methodologische Mängel der Studien, irrelevante Prüfkriterien, falsches Zitieren etc. (1, 2, 3). Insgesamt waren die verbreiteten Literaturangaben zu Größe und Häufigkeit des Placeboeffekts unbegründet und in hohem Maße übertrieben, wenn nicht gänzlich falsch.

Diese Ergebnisse wurden mit einer von der Nordischen Cochrane-Gruppe im New England Journal of Medicine publizierten Meta-Analyse (4) überprüft und bestätigt: 114 randomisierte Studien mit Placebogruppen und unbehandelten Gruppen ergaben keine Überlegenheit der Placebobehandlung gegenüber der Nullbehandlung, außer eventuell bei Schmerzbehandlung, wo es sich allerdings auch um Studienartefakte handeln kann. Ein Cochrane-Review derselben Arbeitsgruppe kam ebenfalls zum Ergebnis von allenfalls moderaten Placeboeffekten (5).

  1. Kienle GS, Kiene H. The Powerful Placebo Effect. Fact or Fiction? Journal of Clinical Epidemiology 1997;50 (12):1311-1318.
  2. Kienle GS. Der sogenannte Placeboeffekt – Illusion, Fakten, Realität. Stuttgart: Schattauer Verlag; 1995, 95 S.
  3. Kienle GS, Kiene H. Placeboeffekt und Placebokonzept. Eine kritische methodologische und konzeptionelle Analyse von Angaben zum Ausmaß des Placeboeffekts. Forschende Komplementärmedizin 1996;3 (3):121-138.
  4. Hróbjartsson A, Gøtzsche P. Is the placebo powerless? An analysis of clinical trials comparing placebo with no treatment. The New England Journal of Medicine 2001;344(21):1594-1602.
  5. Hróbjartsson A, Gøtzsche P. Placebo interventions for all clinical conditions. Cochrane Database Syst Rev. 2004;(3):CD003974. DOI: 10.1002/14651858.CD003974.pub2.
    Weitere IFAEMM-Publikationen zum Thema: 
  6. Kienle GS. Der Placeboeffekt - ein Mythos zwischen Selbstheilung und Selbsttäuschung. In: Perl F, Beckerman M (Hrsg). Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Basel: Schwabe Verlag Basel; 2004. S. 131-141. 
  7. Kienle G, Kiene H. A critical reanalysis of the concept, magnitude and existence of placebo effects. In: Peters D (Hrsg), Understanding the Placebo Effect in Complementary Medicine. Theory, Practice and Research. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2001. S. 31-51.
  8. Kienle GS. Der Placeboeffekt – eine kritische Evaluation. Dokumentationsband des 18. Hochschulkurs aus Gesundheitsökonomik, 5.-7. Oktober 1998, Bildungshaus Kloster Neustift bei Brixen/Südtirol. Institut für Finanzwissenschaft der Universität Innsbruck. Österreichische Gesellschaft für Gesundheitsökonomie; 1999, S. 1-17.
  9. Kiene H, Kienle GS. The placebo effect: a scientific critique. Complementary Therapies in Medicine 1998;6:14-24.
  10. Kienle GS, Kiene H. Placeboeffekt und Placebokonzept. Eine kritische methodologische und konzeptionelle Analyse von Angaben zum Ausmaß des Placeboeffekts. Der Frauenarzt 1998;39 (4):571-585.
  11. Kienle GS. Der Placeboeffekt – eine kritische Evaluation. Deutsche Apotheker Zeitung 1998;138 (30):33-41.
  12. Kienle GS, Kiene H. Der Placeboeffekt – Ein hartnäckiges Gerücht (II). Raum & Zeit 1998;91:67-72.
  13. Kiene H, Kienle GS. Placeboeffekt und Religion. Forschende Komplementärmedizin 1997;5:296.
  14. Kienle GS. Methodologische Kritik zum sogenannten Placeboeffekt. In: Baur MP, Fimmers R, Blettner M (Hrsg). Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie GMDS '96. 41. Jahrestagung der GMDS, Bonn, September 1996. München: MMV; 1997. S. 365-369.
  15. Kienle GS. Kritische Analyse der wissenschaftlichen Basis des sogenannten Placeboeffekts. Bedeutung des Placeboarguments für die Erfahrungsheilkunde. Erfahrungsheilkunde 1997;5:298-307.
  16. Kienle GS, Kiene H. Placeboeffekt und Placebokonzept. Eine kritische methodologische und konzeptionelle Analyse von Angaben zum Ausmaß des Placeboeffekts. Der Merkurstab 1997;50 (3):137-156.
  17. Kienle GS. Methodologische Kritik zum sogenannten Placeboeffekt. Rundbrief für die Mitarbeiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum in aller Welt 1997;22:81-85.
  18. Kienle GS, Kiene H. Der Placeboeffekt – Ein hartnäckiges Gerücht (I). Raum & Zeit 1997;90:63-70.
  19. Kienle GS. Der Placeboeffekt – Realität oder Illusion?. In: Hornung J (Hrsg). Forschungsmethoden in der Komplementärmedizin. Über die Notwendigkeit einer methodologischen Erneuerung. Stuttgart: Schattauer Verlag; 1996.  S. 204-213.
  20. Kienle GS, Kiene H. Placebo Effect and Placebo Concept: A Critical Methodological and Conceptual Analysis of Reports on the Magnitude of the Placebo Effect. Alternative Therapies in Health and Medicine 1996;2 (6):39-54.

Warum wurde 1946 und 1955 die Placebodiskussion eingeleitet?
(aus: H. Kiene: Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung. Springer Verlag 2001 
S. 166-167)

Aufschlußreich für die gesamte Placebodiskussion ist es, wenn man die Motive - die Hidden Agenda - zur Kenntnis nimmt, die der Propagierung des Placeboeffekts, historisch gesehen, überhaupt zugrundelagen.

Es waren zwei Ergebnisse, die maßgeblich das Placebophänomen ins Bewußtsein der Öffentlichkeit brachten: die Cornell Conference von 1946 ("The Use of Placebos in Therapy" (1)) und Henry K. Beechers Publikation "The Powerful Placebo" (2). Folgende Motivationen waren dabei maßgebend:

Die Cornell Conference on Therapy von 1946 wurde damals von dem Vorsitzenden E. F. DuBois mit den Worten eröffnet, daß die Placeboforschung der wichtigste Schritt in der wissenschaftlichen Medizin sei: "As a matter of fact, I think we can show that the study of the placebo is the most important step to be taken in scientific therpy" (1). - Im Protokoll der Konferenz (1) läßt sich nachlesen, wie diese Überzeugung zustande gekommen war, nämlich angesichts der Therapieerfolge der Homöopathie: "The enormous sucess of homeopathy, where drugs are given in great dilution, is a good example. Its success and therapeutic results are porbably better than those in the case of some of the regular drugs that are given in huge doses by the rival practitioners. At least, it has demonstrated very clearly what can be done by placebos" (1). Weiter wird in dem Protokoll berichtet, welche Art von Wirkungen Placebos haben könnten, beispielsweise gegen Schlafbeschwerden, Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit. Sodann werden verschiedene solcher Placebos genannt, z. B. Gentiana oder Baldrian. Dies aber sind naturheilkundliche Mittel mit spezifischer Wirksamkeit gegen eben jene genannten Beschwerden! So ist also im Protokoll der Cornell Conference von 1946 nachzulesen, daß die Placebodiskussion 1946 eingeleitet wurde, weil orthodoxe Ärzte in ihrer ärztlichen Praxis Erfolge von Homöopathika und Phytotherapeutika beobachteten, dann aber diese Erfolge nicht in ihr theoretisches Konzept der Wirklichkeit und der Medizin einfügen konnten und nicht bereit waren, zu akzeptieren, daß es sich um spezifische Therapieeffekte handeln könne. Es sollten also mit dem Placeboargument jene beobachteten Erfolge hinwegrationalisiert werden.

Anders lag die Motivation bei dem zweiten maßgeblichen Ereignis, als Henry K. Beecher "The Powerful Placebo" (2) publizierte:

In einem kürzlich im Lancet publizierten medizinhistorischen Artikel schrieb Ted Kaptchuk über die Anfänge der randomisierten Studien in den 50er Jahren. Es sollte damals die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit dieses Studientyps überzeugt werden. Kaptchuk schrieb - mit Bezug auf G. S. Kienles vernichtende Analyse von Beechers Arbeit - daß damals das Placeboargument die Eintrittskarte in die Epoche der verblindeten randomisierten Studien (RCZ9 war: "The 'new' placebo became both the raison d'être for, and the sacrificial victim of, the masked RCT" (3). Je größer der Placeboeffekt, desto nötiger die doppelblinde randomisierte Studie: "The greater the Placebo's power the more the necessity there was for the masked RCT itself" (3). Deshalb war weniger wichtig, den Placeboeffekt korrekt darzustellen als ihn vielmehr als eine Bedrohung der wissenschaftlichen Wirksamkeitsbeurteilung zu beschwören: "Accurate portrayal of the placebo effect was of less importance than invoking it as a threat to scientific evaluation . . ." (3). Es ging ja immerhin darum, die medizinische Profession zu überreden, die placebokontrollierte randomisierte Studie zu akzeptieren: " . . . 'the powerful placebo effect' became a major argument used to persuade the medical profession to accept the placebo-controlled RCT" (3).

So waren es zwei Motive, die Pate standen beim Einstig in die Placebodiskussion: erstens das Bedürfnis, die Erfolge der Homöopathie und Phytotherapie erklären zu können, ohne den Allumfassungsanspruch der konventionellen wissenschaftlichen Konzeptionen in Frage stellen zu müssen; zweitens der Wunsch, die Methodik der verblindeten randomisierten Studie generell durchzusetzen. Es war der Schatten dieser beiden Motivationen, innerhalb dessen es sodann zu den jahrzehntelang herrschenden Auffassungen kam, daß das bewußte oder unbewußte Vortäuschen therapeutischer Kompetenz - die Irreführung des Patienten: "the lie that heals" (4) - ein machtvoller Heilfaktor sei. Im Rückblick erweist sich diese Auffassung aber als eventuell nichts anderes als eine bloße Illusion.

  1. Cornell Conferences on Therapy (1946) The use of placebos in therapy. Therapeutics 1718–1727
  2. Beecher HK (1955) The Powerful Placebo. JAMA 17: 1602–1606
  3. Kaptchuk TJ (1998) Powerful placebo: The dark side of the randomised controlled trial. Lancet 351: 1722–1725
  4. Brody H (1982) The lie that heals: The ethics of giving placebos. Ann Intern Med 97: 112–118

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