Leitlinien zur Forschungspublikation sind in der Medizin die wichtigsten methodologischen Steuerungsinstrumente. Es gibt sie für alle wichtigen Formen der klinischen Forschung (randomisierte Studien, systematische Reviews, etc.). Für die häufigste medizinische Publikationsform – nämlich Fallberichte – gibt es die CARE-Guidelines (CAse-Report-Guidelines). Gemeinsam mit David Riley und J.J. Gagnier wurden sie durch Mitarbeiter des IFAEMM initiiert und dann fertiggestellt in Kooperation mit prominenten Co-Autoren der Evidenz-basierten Medizin, mit Doug Altman, David Moher, Harold Sox, Peter Tugwell, etc. Die CARE-Guidelines wurden parallel in 7 Fachzeitschriften publiziert (1-7). Sie sind auf dem EQUATOR Network als eine der elf wichtigen medizinischen Publikationsleitlinien aufgeführt.
Im Anschluss an die CARE-Guidelines entstand weltweit eine rege Forschungsaktivität zum Thema ‚Case Reporting‘. Die Leitlinien wurden breit implementiert und in zahlreiche Fachbereiche übernommen und dort weiter spezifiziert (z. B. SCARE-Leitlinien für die Chirurgie). Online-Ausbildungskurse für das Schreiben von Fallberichten werden von David Riley angeboten: https://care-writer.com/about.
Im IFAEMM wurde ein Gesamtsystem des Kausalerkennens (system of causality assessment) entwickelt, das unter anderem auch die Methode des kriteriengestützten, nicht-statistischen Kausalerkennens am Einzelfall umfasst (1, 2). Dieses Gesamtsystem überwindet die gängige philosophisch-methodologische Traditionslinie des Kausalerkennens, die von Francis Bacon über David Hume, John Stewart Mill bis zu Ronald Fisher und in die moderne klinische Forschung reicht. Es entsteht ein Methodenspektrum, das vom RCT (randomised controlled trial) bis zum TCR (therapeutic causality report) reicht. Indem die gesamte Bandbreite dieses Methodenspektrums zur Wirksamkeitserfassung eingesetzt werden kann, werden die methodischen Möglichkeiten der medizinischen Evidenzgewinnung erweitert (expanded evidence; cognition based medicine).
Die Möglichkeit dieses Einzelfall-Kausalerkennens ist für die Medizin von immenser Bedeutung. An ihr hängt u.a. die methodologische Berechtigung der praxisbasierten Medizin (experience based medicine), ebenso auch das kausale Evaluieren am Einzelpatienten in einer personenzentrierten Medizin, was eine der großen Aufgaben der Medizin des 21. Jahrhunderts ist (3).
Klinische Fallberichte, in denen die Kriterien des Einzelfall-Kausalerkennen in klinischen Fallberichten (case reports) präsentiert werden, sind eine nicht geringe technische Herausforderung.
Der EBM-Pionier Milos Jenicek schrieb hierzu: „Clinical pharmacology and cognition-based and anthroposophical medicines try to look at this problem. ... Given all these considerations, the future of clinical case reporting in all health sciences is bright.“ (4)
In IFAEMM-Kooperationen wurde eine Serie von Fallberichten speziell zur Anthroposophischen Medizin verfasst, die als Modelle für Fallberichte dienen können. In den jüngeren dieser Fallberichte lag ein besonderes Augenmerk auf der graphisch-bildhaften Darstellung von Timelines, in künftigen Fallberichten sollten vermehrt auch die Kriterien für das Erkennen therapeutischer Kausalität am Einzelpatienten ausdrücklich einbezogen und benannt werden.
Siehe Fallberichte aus dem IFAEMM.
Folgender Text, Seiten 34/35 aus: H. Kiene: Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung. Cognition-based Medicine. Springer-Verlag 2001
Oft wird argumentiert, man könne aus Beobachtungen an einzelnen Patienten nichts für künftige Patienten ableiten. („Beobachtungen bei einem Patienten bedeuten nichts für künftige“). Übersehen wird aber ebenso oft, daß dasselbe Argument auch für Studienkollektive gilt, vor allem bei randomisierten Studien. Die randomisierte Studie wird ja gerade deshalb prinzipiell gefordert, weil ein Kausalerkennen am Einzelfall angeblich nicht möglich sei. Gerade unter dieser Voraussetzung ist aber auch innerhalb einer randomisierten Studie eine Kausalerkenntnis an den einzelnen Prüfobjekten (z. B. Patienten) nicht möglich. Demnach kann man, sogar wenn eine randomisierte Prüfung ein positives Ergebnis erbringt, nicht wissen, bei welchen einzelnen Studienpatienten das Prüfmittel wirksam war. Folglich kann man – wenn man die herrschende Methodenlehre ernst nimmt – auch nicht wissen, bei wie vielen Patienten dieser Studie das Arzneimittel wirksam war. Deshalb bietet z. B. eine Studie mit je 50 Patienten in Prüf- und Kontrollgruppe nicht mehrere (z. B. 50), sondern nur einen einzigen Beleg der Arzneimittelwirksamkeit. Sogar wenn Tausende von Probanden in einer Studie enthalten sind, ist damit noch nichts reproduziert. Es wird oft übersehen, daß die Vielzahl der Probanden nicht benötigt wird, um zu reproduzieren, sondern um den (therapeutischen) Kausalzusammenhang einmal darzustellen.
Die Redeweise „ein Fall ist kein Fall“ gilt gleichermaßen für eine randomisierte Studie, auch deren Ergebnis ist nur ein einziger Fall. Wenn argumentiert wird, „Beobachtungen bei einem Patienten bedeuten nichts für zukünftige“, wird nicht beachtet, daß gleichermaßen auch eine randomisierte Studie an einem Patientenkollektiv nichts für zukünftige Patientenkollektive bedeutet. In beiden Fällen, sowohl bei der Wirksamkeitsbeurteilung am einzelnen Patienten als auch bei der Wirksamkeitsbeurteilung in einer randomisierten Studie handelt es sich jeweils nur um eine einzige Darstellung der Wirksamkeit. Das Verallgemeinerungsargument kann also nicht gegen das Prinzip der Wirksamkeitsbeurteilung am einzelnen Patienten ins Feld geführt werden, weil es sonst auch ein Argument gegen die traditionell geforderte randomisierte Studie sein müßte.
In Wirklichkeit liegen die Verhältnisse sogar umgekehrt: Insofern nämlich die Wirksamkeitsbeurteilung am Einzelpatienten rascher und flexibler möglich ist als in einer randomisierten Studie, läßt sich auch das Maß der Reproduzierbarkeit rascher feststellen als im Rahmen von randomisierten Studien.
Ergänzende Ausführungen zu diesem Thema: Komplementäre Methodenlehre: S. 73/74, S. 103, S. 106ff.
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