2.2 Exkurs zur evidenzbasierten Medizin

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist die sogenannte Evidenz-basierte Medizin das Ideal der wissenschaftlich orientierten medizinischen Praxis. Ihre maßgeblichen Säulen sind die externe Evidenz aufgrund von klinischer Forschung und die ärztliche Expertise aufgrund von klinischer Erfahrung (sowie die Patientenperspektive auf der Grundlage der Werte und Präferenzen der Patienten) (1): 

„Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz ‚tyrannisiert‘ zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen.“ (1) – Beides ist für eine Evidenz-basierte Medizin nötig: externe Evidenz und ärztliche Expertise.

  1. Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn't. BMJ. 1996 Jan 13;312(7023):71-2. DOI: 10.1136/bmj.312.7023.71

In der heutigen Evidenz-basierten Medizin wird nicht beachtet, dass nicht nur das Erzeugen von verlässlicher externer Evidenz, sondern auch das Erzeugen von verlässlicher ärztlicher Expertise auf wissenschaftliche Forschung gestützt werden kann. Die betreffende Forschung ist allerdings sehr unterschiedlich: 

  • Für das Erzeugen von verlässlicher externer Evidenz wird das subjektive menschliche Urteil weitestgehend ausgeschaltet (durch Einsatz von Statistik, Randomisierung, Verblindung etc.).
  • Für das Erzeugen von verlässlicher ärztlicher Expertise muss dagegen das menschliche Urteilsvermögen spezifisch ausgebildet werden.

Das Gewichtungsverhältnis von externer Evidenz und ärztlicher Expertise

Das gegenseitige Gewichtungsverhältnis von externer Evidenz und ärztlicher (bzw. therapeutischer) Expertise kann je nach medizinischer Disziplin und Therapie unterschiedlich ausfallen. Zum Beispiel: Im Bereich der Physiotherapie ist eine Behandlungswirksamkeit oft unmittelbar am einzelnen Patienten beurteilbar, nicht aber im Bereich der präventiven Arzneitherapien. Einmal kann die ärztliche bzw. therapeutische Expertise genügen, einmal kann eine randomisierte Studie nötig sein. Pauschale Vereinheitlichungen dieses Verhältnisses sind nicht sachgemäß. 

Zur externen Evidenz

Das klassische Modell zur Erzeugung von externer Evidenz findet sich in der konventionellen Arzneimittelforschung. Hier wird mit präklinischer Forschung im Labor begonnen, gefolgt von klinischer Forschung (Phase I, II, III, IV). Diese Abfolge ist allerdings für nicht-pharmakologische Therapien wie z. B. Physiotherapie ungeeignet, denn sie wird nicht in der Petrischale oder im Reagenzglas untersucht und entwickelt, sondern direkt in der klinischen Praxis. Ähnliches gilt für Arzneitherapien, die nicht in Molekularmechanismen und Zellularprozessen, sondern in Ordnungen von Gestaltbildungskräften (morphogenetic forces) begründet sind. Diese kommen in der Hauptsache nicht im Labor zur Geltung, sondern nur im Organismus selbst (siehe 6. Basisforschung in Wissenschaft und Philosophie). Außerdem besteht eine besondere Situation, wenn nicht eine nach ICD (International Classification of Diseases) definierte Erkrankung behandelt wird, sondern die sich pathologisch auswirkende Konstellation von Gestalt- bzw. Innerlichkeit-bildenden Kräften (siehe 3. Evaluation der Anthroposophischen Medizin) oder ein Konstitutionsaspekt des Patienten oder eine Symptomkonstellation nach dem sogenannten Arzneimittelbild (siehe 4. Evaluation der Homöopathie)

Zu dem klassischen Modell der konventionellen Arzneimittelforschung gehört das übliche Verfahren der Arzneimittelzulassung mit der Forderung nach einer randomisierten, verblindeten Studie im Vergleich zu Placebo oder Standardbehandlung. Hierdurch entsteht folgendes Normbild von geprüfter klinischer Wirksamkeit:  

  • Existenz einer therapeutischen Wirksamkeit unabhängig von speziellen Fähigkeiten des jeweiligen Behandlers
  • ein 1:1-Bezug von einem Arzneimittel zu einer Indikation 

Die Gültigkeit dieses Normbildes ist allerdings eingeschränkt: 

  • wenn die Erfolgsaussicht der Behandlung auch von den Fähigkeiten des konkreten Behandlers abhängig ist, z. B. in der Chirurgie und Psychotherapie 
  • wenn ein Therapiesystem mehr als 1000 Arzneimittel mit jeweils vielfältigen Anwendungen auch außerhalb des ICD-Systems umfasst, z. B. in der Homöopathie und der Anthroposophische Medizin - zumal heute für eine relevante konfirmatorische klinische Arzneimittelstudie je nach medizinischem Bereich erforderliche Kosten in Höhe von 11 bis 53 Millionen US Dollar zu berechnen sind (1), weshalb es viele hundert Milliarden Eurokosten würde, die Einzeltherapien dieser Therapiesysteme mit herkömmlichen Wirksamkeitsnachweisen abzudecken.
  1. Sertkaya A. et al: Key cost drivers of pharmaceutical clinical trials in the United States. Clinical Trials 2016;13:117-126

Vor diesem Gesamthintergrund wurden im IFAEMM alternative Möglichkeiten der Gewinnung von externer Evidenz entwickelt: 

Zur ärztlichen Expertise 

Die ärztliche bzw. therapeutische Expertise erstreckt sich auf die Arzt-Patient-Beziehung und insbesondere auf das Diagnostizieren und Therapieren. Diese Expertise kann hinsichtlich externer Evidenz verschiedene Aufgaben übernehmen: 

  1. Umsetzung der externen Evidenz am individuellen Patienten. Der Arzt muss vor der Behandlung eines konkreten Patienten beurteilen, welche Ergebnisse der klinischen Forschung anwendbar sind und welche nicht. Sodann muss der Arzt während der Behandlung kritisch prüfen, inwieweit die aufgrund externer Evidenz angewendete Therapie zum erhofften Erfolg führt oder nicht.
  2. Umsetzung der ärztlichen Expertise in klinische Forschung. Positive Wirksamkeitshinweise aus der ärztlichen Erfahrung können Anlass für die Durchführung entsprechender klinischer Studien sein. Dies gilt vor allem für Therapien, die nicht im Labor, sondern in der Praxis entwickelt wurden, d. h. die nicht-pharmakologischen, chirurgischen, psychotherapeutischen, komplementärmedizinischen und ebenso die off-label eingesetzten Therapien. 
  3. Direkte Beurteilung der Wirksamkeit am einzelnen Patienten. Eine unmittelbare Wirksamkeitsbeurteilung am Patienten ist immer dann möglich, aber eben nur dann, wenn der Behandlungsverlauf ein oder mehrere Charakteristika aufweist, die ein Einzelfall-Kausalerkennens erlauben. Die prinzipielle Möglichkeit dieser Art des Kausalerkennens ist der große blinde Fleck.
    Näheres hierzu siehe: 1.4 Evaluation am individuellen Patienten

Gewisse Anfänge von derart individueller Wirksamkeitsbeurteilung werden in der Medizin längst praktiziert (auch wenn bislang die betreffende Methodik und ihre Kriterien nicht bewusst reflektiert sind). Dies mag auch einer der Gründe sein, warum sogar in einem so forschungsintensiven medizinischen Bereich wie der Kardiologie immerhin 55% der Leitlinienempfehlungen auf bloßer Experteneinschätzung beruhen und nur 14% auf Level-A-Evidenz (1). 

  1. Fanaroff AC et al: Levels of Evidence Supporting American College of Cardiology/American Heart Association and European Society of Cardiology Guidelines, 2008-2018. JAMA. 2019 Mar 19;321(11):1069-1080

Für die Zukunft der Evidenz-basierten Medizin sollte nicht nur die Menge an externer Evidenz weiter akkumuliert werden, es sollte auch die Methodik der ärztlichen bzw. therapeutischen Urteils- und Erfahrungsfähigkeit weiter formal professionalisiert werden. 

Auch hierzu gibt es Beiträge des IFAEMM, und auch diese werden im Weiteren dieser Webseite noch dargestellt. 

Integrative Evaluation

Eine strategische Frage für die Evidenz-basierte Medizin ist: Wie können externe Evidenz und ärztliche Expertise in den verschiedenen medizinischen Bereichen so miteinander integriert werden, dass eine jeweils adäquate evidenzbasierten Medizin entsteht? 

Diese Frage ist besonders brisant bei einem System wie dem der Anthroposophischen Medizin, das auch spezifische Arzneimittel umfasst und dessen Evaluation ein Arbeitsschwerpunkt des IFAEMM ist (siehe 3. Evaluation der Anthroposophischen Medizin). Hier kumulieren die Schwierigkeiten einer umfassenden Evaluation: 1) Die Therapiekonzeptionen sind nicht im Labor entwickelt; 2) die Therapien werden primär oft jenseits der gängigen ICD-Indikationen eingesetzt; 3) die Bedeutung von individualisierter Behandlung und Beurteilung wird stark betont; 4) die Zurückhaltung gegenüber der Teilnahme an randomisierten klinischen Studien ist groß; 5) die finanziellen Ressourcen sind im Verhältnis zu den Kosten von relevanten konfirmatorischen Arzneimittelstudien begrenzt. 6) Überhaupt liegt dem Verständnis von Mensch und Natur eine andere Ratio zugrunde als dem partikularistischen Wirklichkeitsverständnis der gegenwärtigen Naturwissenschaft  (siehe 3.1 Das grundsätzlich Besondere der anthroposophisch orientierten Medizin).

Für die Evaluation eines derartigen Therapiesystems ist erforderlich: 

  • ein fundierter Brückenschlag zwischen dem wissenschaftlichen Gedankengebäude der herkömmlichen Naturwissenschaft und dem der Anthroposophischen Medizin (siehe 6. Basisforschung in Wissenschaft und Philosophie)
  • die Entwicklung der Methodologie des Einzelfall-Kausalerkennens (siehe den obigen Abschnitt zur ärztlichen Expertise).
  • die Entwicklung eines Methodenspektrums der klinischen Forschung, das von der Globalevaluation des gesamten Systems über exemplarische oder repräsentative Evaluationen von standardisierten Einzeltherapien bis zu Evaluationen an Einzelpatienten reicht, und das dabei das Methodologische Spektrum vom randomised controlled trial (RCT) bis zum therapeutic causality report (TCR) umspannt. Nötig ist eine integrative Evaluation unter Einbezug verschiedenster klinischer Forschungsmethoden (1-3): 
  1. Kienle GS, Ben-Arye E, Berger B, Cuadrado Nahum C, Falkenberg T, Gabor K, Kiene H, Martin D, Wolf U, Szöke H: Contributing to global health – development of a consensus-based whole systems research strategy for anthroposophic medicine. Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine, Volume 2019, Article ID 3706143, DOI: 10.1155/2019/3706143
  2. Kienle GS, Hamre HJ, Kiene H. Integrative evaluation of whole medical system and person-centered care. P 23-4. In: Kienle GS, Hamre HJ, Kiene H, Ostermann T, Anderle L, Naussner N, Schuster R. Methodological aspects of integrative and person-oriented health care evaluation. Complement Med Res 2017;24(suppl 1):23–8. DOI: 10.1159/000460511  
  3. Kienle GS, Albonico H-U, Fischer L, Frei-Erb M, Hamre HJ, Heusser P, Matthiessen PF, Renfer A, Kiene H. Complementary therapy systems and their integrative evaluation. Explore: The Journal of Science and Healing 2011;7(3):175-87. Abstract (PubMed)   Volltext (PDF)   Volltext (HTML)

Im IFAEMM wurden methodologische Entwicklungsbeiträge zu all diesen Punkten der Gesamtevaluation geleistet. Dies wird in den folgenden Kapiteln an konkreten Evaluationsbeispielen dargestellt. 

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